Sonntag, 15. November 2020
Mit Schweizer Präzision: Bertone - Pioniere des Autodesigns von Roger Gloor beim Olms Verlag
Die von Giovanni Bertone bereits 1912 gegründete und seinen Namen tragende Carrozzeria gehörte für lange Zeit zu den führenden Betrieben, spektakuläre Designstudien wie die Alfa Romeo BAT-Serie, der Marzal, der Stratos usw., aber auch erfolgreiche Produktionsmodelle vom Alfa Romeo Giulietta Sprint bis hin zum Opel Astra Coupé und Cabrio festigten den Ruf des leider 2014 in Insolvenz gegangenen Unternehmens. Wer die wechselvolle Geschichte von Bertone genau verfolgen wollte, war bisher auf meist englisch/italienische Bücher angewiesen, die sich aber in erster Linie mit den Produkten, weniger mit der Firmengeschichte befassten.
Die Ankündigung eines deutschsprachigen Buchs über die Carrozzeria Bertone war deshalb sehr interessant, noch dazu durch den Namen des Autors. Der Schweizer Roger Gloor war über viele Jahre als Redakteur bei der angesehenen Automobil Revue tätig und bereits durch seine Standardwerke „Nachkriegswagen“, Autos der 60er, 70er sowie 80er Jahre bekannt. Die erste Auflage erschien 2019 allerdings im Eigenverlag, umfasste lediglich 150 Exemplare, zeigte leider einige Schwächen im Text und in der Bildbearbeitung und war teuer und aus der Schweiz nur über die Zollschranke bestellbar.
Umso erfreulicher, dass sich der Georg Olms Verlag aus Hildesheim, eigentlich in erster Linie auf geisteswissenschaftliche Werke spezialisiert, bereit erklärte, dieses Buch zu überarbeiten und preislich attraktiv anzubieten. Um es vorwegzunehmen, das Ziel wurde erreicht. Viele Fotos wurden neu gescannt bzw. überarbeitet, soweit es möglich war. Der Text wurde komplett Korrektur gelesen, dabei verschwanden auch manche Schweizer „ß“. Ein paar Kleinigkeiten blieben doch stehen, so die Jahreszahl 2000 für die Einführung des Fiat Panda auf Seite 269 oder das hier unpassende Modell des Dino 206 GT auf Seite 311, das Original kam ja bekanntlicherweise von Pininfarina. Das sinnfreie Foto des Lamborghini Aventador auf Seite 151 bekam zumindest eine entschärfte Bildunterschrift, besser wäre es sicher gewesen, ganz darauf zu verzichten.
Aber genug der Kritik, im Vergleich zu bisher erschienenen Veröffentlichungen über Bertone hat Roger Gloors Werk wesentlich mehr Tiefgang zu bieten, außerdem schafft es der Autor, das Wirken der Carrozzeria und ihrer Designer in den Kontext der Automobilgeschichte einzubinden und auch allgemein auf die Entwicklung des Autodesigns einzugehen. Dadurch wird das Buch sehr spannend, um es von vorne bis hinten durchzulesen, die chronologische Reihenfolge macht es aber auch leicht, einzelne Kapitel zu finden, die aktuell das Interesse wecken. Vor allem die beruflich bedingten engen Kontakte zum Haus Bertone machten es Gloor möglich, tiefe Einblicke zu gewinnen und sogar manche der Prototypen auf der Straße zu bewegen. Alle bekannten und auch manches damals geheim gebliebenes Fahrzeug werden vorgestellt, gleichzeitig die Entwicklung der Firma und der Werksanlagen aufgezeigt, viele Detailfotos und Beschreibungen zeigen die Präzision der Recherche. Akribisch, wie der Autor immer zu arbeiten gewohnt war, findet der Leser auch Produktionszahlen der bei Bertone gefertigten Serienautos (über 700.000 Stück!), ein Namensregister, ein ausführliches Inhaltsverzeichnis sowie den Abdruck früherer Interviews mit Nuccio Bertone und vieles mehr. Wie es mit der hauseigenen Sammlung von Studien nach der Insolvenz weiterging, wird ebenfalls dokumentiert.
Der Patron selbst war natürlich nicht der Schöpfer der ganzen Fahrzeuge, sondern hatte immer seinen Chefdesigner, darunter so klangvolle Namen wie Franco Scaglione, Giorgetto Giugiaro oder Marcello Gandini. Gloor ordnet die Entwürfe jeweils diesen Namen zu, in der Übergangszeit mag es zu Überschneidungen geführt haben. So sieht die Studie des Volvo Tundra eindeutig nach Gandini aus, wird aber zeitlich dessen Nachfolger Marc Deschamps zugeordnet. Aber egal, über allem stand natürlich der Name Bertone!
Wer ein Bilderbuch mit moderner Grafik und tollem Layout erwartet, ist hier falsch. Gloor arbeitet in seinem gewohnt nüchternen dreispaltigen Umbruch, viele Fotos sind eher klein gehalten, es ist nicht einfach, diese Informationsfülle auf 324 Seiten unterzubringen. Die Textqualität ist sehr gut, wie gesagt, man spürt, dass ein Korrektor am Werk war, die Fotos sind nicht alle perfekt, aber das ist auch den Vorlagen geschuldet. Auf jeden Fall hat der Verlag ganze Arbeit geleistet, ein interessantes Produkt anzubieten. Wer sich für Bertone im speziellen, aber auch für Autodesign im Allgemeinen interessiert, sollte den „Frühbucherpreis“ nutzen. Im Vergleich zum nummerierten Exemplar der Erstauflage, für das ich mit Zoll und Gebühren fast 150 € bezahlt habe, ist das eine einmalige Gelegenheit. Die angefügten Fotos sollen einen kleinen Eindruck davon geben, was den Käufer erwartet.
„Bertone - Pioniere des Autodesigns“ von Roger Gloor ist im Georg Olms Verlag erschienen, 324 Seiten, über 1.200 Abbildungen, ISBN 978-3-487-08632-3, Subskriptionspreis bis 31.12.2020 68,- €, danach 88,- €
Fotos und Rezension: Rudi Seidel